Auf den Spuren der Kohlebahnen

Verfasser: Höbald, Jörg; Otto, Ralf-Peter
Jahr: 2006
Verlag: Glauchau, Buchmanufaktur Gesau
Preis: 9,95 EUR
 
Auf den Spuren der Kohlebahnen, Sachsen

Vor nicht allzu langer Zeit war die Einladung zu einem Ausflug in die Region zwischen Altenburg und Leipzig mit einem schlechten Scherz gleichzusetzen. Schließlich bildete der Südraum von Leipzig ein Zentrum des Braunkohlenbergbaus, der Energiegewinnung und der Karbochemie in der Deutschen Demokratischen Republik. Tag und Nacht legten Bagger und Förderbrücken mit oftmals gigantischen Ausmaßen die Kohlenflöze frei und verluden das geförderte Gut in die Züge der Werkbahnen, die dann eine scheinbare Unzahl kleinerer und größerer Kraftwerke, Brikettfabriken, Gas- und Teerwerke belieferten. Auf diese Weise entstand der Eindruck eines überaus schmutzigen Industriegebietes, welches Abgase sowie Staub aus tausenden Schornsteinen, Abzügen und Auspuffrohren, aber auch der Lärm von Motoren, Rangierbahnhöfen, Verdichtern und Pressen, prägten. Schließlich konnte niemand so recht glauben, daß sich diese Situation jemals ändern würde.

Nachdem die revolutionären Ereignisse der Jahreswende 1989 / 90 den Zerfall der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands einleiteten, änderten sich die Bedingungen für die Braunkohlengewinnung und -veredelung in der Industrieregion südlich von Leipzig grundlegend. Binnen weniger Monate standen die Produkte aus dem heimischen Roh- und Brennstoff im harten internationalen Wettbewerb. Sehr schnell wurden Erdöl, Erdgas sowie Steinkohle, aber auch schon moderne Kleinwasserkraft-, Solar- und Windkraftanlagen in den neuen Bundesländern, verfügbar. Damit war den Dinosauriern des Industriezeitalters in ganz Mitteldeutschland ihre bisherige Existenzgrundlage entzogen.

Sowohl die Vielzahl der privaten Haushalte als auch Gewerbebetriebe tauschten die arbeitsaufwendigen Heizanlagen auf der Basis der Braunkohlebrikettfeuerung aus. Der Betrieb älterer Wärmekraftwerke band zu viel Personal, um die Elektroenergie zu konkurrenzfähigen Preisen anbieten zu können. Zudem riefen die komplizierten Verfahren der Kohleverflüssigung bzw. Kohlevergasung laufende Betriebskosten hervor, die gegenüber dem Import von Erdöl bzw. Erdgas ungleich höher lagen.

In der Folge verschwanden die meisten alten Anlagen der Braunkohlenindustrie aus der Landschaft südlich von Leipzig, die auf der einen Seite jahrzehntelang Brennstoffe, Elektroenergie, Treibstoffe, Schmiermittel, Farben und Kunststoffe geliefert hatten, womit sie der mitteldeutschen Bevölkerung eine bescheidene Lebensqualität sicherten. Auf der anderen Seite stellten die alten Industrieanlagen aber auch wahre Dreckschleudern dar, aus deren Schornsteinen, Auspuffanlagen, Abzügen, Abflußrohren usw. ein breites Spektrum von Abfallprodukten strömte, daß sich unter dem Begriff Umweltschadstoffe zusammenfassen läßt. Mit dem Ende der markanten Rauchsäulen, Gasfackeln und der undefinierbaren Brühe in den Flüssen verloren schließlich tausende Menschen ihr Auskommen. Obwohl mancher Arbeitsplatz in den alten Produktionsanlagen durchaus an mytologische Vorstellungen von einer Unterwelt erinnerte, gab es sehr feste Bindungen der Belegschaften an ihre Fabriken. Schließlich war man ja teilweise über mehrere Generationen hinweg dafür verantwortlich, daß im wörtlichen Sinne nicht das Licht ausging oder der Sprit in der Zapfsäule versiegte. Gleichgültig ob strenger Frost die Rohkohle in den Waggons festfrieren ließ oder ein schon lange verbrauchtes Bauteil plötzlich den Weg alles Irdischen ging. Der Schornstein mußte rauchen, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.

Von daher war der Abschied nicht leicht, selbst wenn er den mancherorts ungewohnten Luxus versprach, die Wäsche im Freien trocknen zu können. Die düstere Perspektive der Braunkohlengewinnung und -veredelung, die sich unmittelbar nach 1990 abzeichnete, brachte aber auch ganz unterschiedliche Menschen dazu, vehemment für eine weitere Nutzung des Schwarzbraunen Goldes einzutreten. In der Folge ersetzte die Mitteldeutsche Braunkohlen Gesellschaft mbH. (MIBRAG) die alten Kraftwerke Deuben, Phönix / Mumsdorf und Wählitz durch neue Anlagen. In Verbindung mit der Modernisierung des Heizkraftwerkes Chemnitz / Nord entstanden so Voraussetzungen für den weiteren Betrieb des Tagebaus Profen nordwestlich von Zeitz. Weiterhin blieben die Kohlenstaub- und Brikettfabrik Deuben sowie die traditionsreiche Brikettfabrik Phönix Mumsdorf erhalten, welche die Produktion hochwertiger Briketts aus heimischer Braunkohle aufrechterhalten. Die Errichtung eines neuen Braunkohlengroßkraftwerkes am ebenfalls traditionsreichen Standort Böhlen – Lippendorf ermöglichte schließlich die Wiederaufnahme der Braunkohlenförderung im Tagebau Vereinigtes Schleenhain.

Dadurch hat sich ein Teil der Braunkohlenindustrie südlich von Leipzig einen Platz in den mittlerweile europäischen Rohstoff- und Energiewirtschaftsstrukturen erarbeiten können. Zeitgemäße Brennverfahren und leistungsfähige Filter lassen die intensive Tätigkeit für den heutigen Beobachter kaum noch spürbar werden. Die Zeit der qualmenden Schlote und schmutzigen Abwässer ist vorüber. Von den gut ausgebauten Aussichtspunkten an den Gruben von Profen und Schleenhain ist es sogar möglich, den Bergleuten bei ihrer Arbeit zuzusehen, die im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzt und zukünftige Seen schafft.

Daneben sind aber auch Denkmäler erhalten geblieben, welche an die Zeiten erinnern, als der Begriff Braunkohle noch mit erheblicher körperlicher Anstregung in Schmutz und Qualm verbunden war. Zu den musealen Einrichtungen südlich von Leipzig gehören vor allem Teile der ehemaligen Brikettfabrik “Gertrud” Zechau, die als Technisches Museum Zechau ihren Besuchern den Einblick in die Technologie der Brikettherstellung erlaubt. Hinzu kommt die Kohlebahn: “Regis – Breitingen – Meuselwitz”, die einen Rest der schmalspurigen Werkbahnen und wichtige Vertreter des Fahrzeugparks für die Nachwelt bewahrt. Dadurch können Erholungssuchende frühere Gruben- und Fabrikstandorte mit Zügen erreichen, die früher dem Arbeitskräfte- und dem Materialtransport dienten. Schließlich gibt es auch noch das kleine aber feine Heimatmuseum des Zeitz – Weißenfelser Braunkohlenreviers / Deuben, daß schon seit 1983 besonders seltene Sachzeugen in einer typischen Barackenarchitektur bewahrt. Somit gibt es heute durchaus reizvolle Angebote, um sich auf die Spuren der früheren Industrieanlagen und der sie verbindenen Kohlebahnen zu begeben. Dabei wird nicht nur ein Teil der Arbeitswelt früherer Generationen sondern auch eine Kulturlandschaft berühert, die tiefe Eingriffe der arbeitenden Menschen in die Natur prägten. Gleichermaßen kann jeder noch einmal das Flair einer ganzen Reihe von echten Dinosauriern des Industriezeitalters erleben, ohne über Gebühr von der Atmosphäre belastet zu werden, die sie einstmals ausstießen. Von daher verspricht die Reise in die Braunkohlenregion besondere Eindrücke einer fast schon vergessenen Welt abseits ausgetretener Touristenpfade.